Die Bürgerschaft soll darüber befinden, ob 26 Objekte der Lübecker Völkerkundesammlung an Namibia und Äquatorialguinea restituiert werden sollen oder nicht. Bevor die gewählten Politiker:innen jedoch eine fundierte Entscheidung treffen können, ist es u. E. erforderlich, dass die Verwaltung
- die rechtliche Grundlage (Vertrag mit der GEMEINNÜTZIGEN von 1934) durch Vorlage eines Gutachtens klärt und
- zunächst eine öffentliche Diskussion der neuesten Forschungsergebnisse über Erwerbsumstände, Herkunftsethnien und ihre rechtmäßigen Nachfolger:innen ermöglicht, idealerweise im Rahmen eines Symposiums, bei dem internationale Fachleute zu Wort kommen, vor allem auch aus den betroffenen Herkunftsländern.
Selbst wenn Unrechtskontext des Erwerbs sowie Herkunft und rechtmäßige Erben der 24 Objekte aus Namibia nicht zu bezweifeln sind, bedarf es auch hier der Mitsprache durch die rechtmäßigen Nachfolger. Zudem ist eine Verständigung mit Namibia über den Umgang mit den sterblichen Überresten von Menschen zwingend erforderlich.
Die beiden zur Restitution nach Äquatorialguinea ausgewählten Fang-Objekte aus der Sammlung Tessmann (Hörnermaske und männliche Reliquiarfigur) sind kein Raubgut. Vielmehr erhielt Günther Tessmann sie von „Häuptlingen“ geschenkt, im Gegenzug stellte er die von ihnen gewünschten Papiere („Books“) aus, obwohl er de facto dazu nicht autorisiert war. Woher diese „Häuptlinge“ stammten, ist nicht bekannt, auch die Herkunft der Hörnermaske ist nicht zweifelsfrei geklärt, sie könnte auch in Gabun oder Kamerun beheimatet sein. Vgl. auch die Verwaltungsvorlage VO/2021/10537 vom 19.10.2022.
Mit einer „bedingungslosen Restitution“ an Äquatorialguinea läuft Lübeck Gefahr, Unikate des Weltkulturerbes nicht nur der Stadtgesellschaft und der Weltöffentlichkeit, sondern womöglich den rechtmäßigen Erben zu entziehen. Diese Feststellung hat nichts damit zu tun, Bedingungen stellen zu wollen, sondern mit Respekt vor der Herkunftsethnie der Fang. Es gilt, ihre Nachfahren in allen drei Ländern (Äquatorialguinea, Gabun und Kamerun) in den Entscheidungsprozess zum Umgang mit ihrem kulturellen Erbe einzubeziehen und ihnen die Chance zu geben, den gesamten Tessmann Bestand neu zu bewerten. Von „oben herab“ die Rückgabe von zwei punktuell ausgewählten Objekten zu verfügen, um sich damit einer Schuld zu entledigen, wird der Komplexität der Sache nicht gerecht.
Allen, die sich mit Tessmanns Aufzeichnungen beschäftigt haben, ist klar, dass er teilweise mit Gewalt vorging, um in den Besitz von Ethnografika zu gelangen. Eine Pionierleistung ist aber seine Dokumentation des Kulturkreises der Pangwe (heute Fang), bevor dieser unter dem Einfluss christlicher Missionare unterging bzw. nur im Verborgenen und damit ohne Entfaltungsmöglichkeiten weiterbestehen konnte. Dieser Tatbestand macht Tessmanns Arbeit herausragend und die von ihm nach Lübeck gebrachten Objekte so wertvoll, zumal
90 % des ursprünglichen Bestandes im Zweiten Weltkrieg verlorengingen. Die männliche Reliquiar-Figur, eine kultisch genutzte Marionette, ist sogar das weltweit einzige bekannte Exemplar dieser Art.
Die Tagebücher Tessmanns wurden von Dr. Sabine Dinslage und Dr. Brigitte Templin bearbeitet und redigiert, und zwar im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts. Das Projekt wurde initiiert und betreut von Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl, vor seiner Emeritierung Leiter des Frobenius-Instituts an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Die Ergebnisse wurden 2012 (Teil 1) und 2015 (Teil 2 und 3) veröffentlicht und stehen seitdem der internationalen Fachöffentlichkeit zur Verfügung.
Im November 2018 erschien das im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Macron veröffentlichte Gutachten von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr zum Umgang mit Kulturgütern aus kolonialem Kontext und entfachte eine intensive Debatte über im kolonialen Machtgefüge angeeignete Ethnografika. Seither wird Provenienzforschung, erweitert um Fragen zum Kolonialismus und zur Restitution, verstärkt öffentlich gefördert.
Dass Herr Dr. Frühsorge, seit 2018 Leiter der VKS Lübeck, Bundesmittel eingeworben und eine Doktorandin aus Gabun mit Vor-Ort-Recherchen beauftragt hat, ist nur folgerichtig und begrüßenswert. Gegenstand der Recherchen waren Erkundigungen zum Selbstverständnis der Ethnie Fang und zu ihrem Wissen über die Objekte, die Tessmann nach Lübeck gebracht hatte. Aber: Die Ergebnisse der Vor-Ort-Recherchen in Kamerun, Gabun und Äquatorial-guinea sind nach unserem Kenntnisstand bisher weder veröffentlicht noch sind die Arbeiten abgeschlossen. Aufgrund der Bedeutung des Tessmann Bestandes ist es notwendig, der Wissenschaftlerin genügend Zeit zu geben, um die ersten Ergebnisse wissenschaftlich abzusichern.
Da Fragen zum Kolonialismus, zur Restitution und zur globalen Gerechtigkeit viele junge Leute interessiert, ist aus unserer Sicht damit auch der zukünftige Arbeitsschwerpunkt eines Forums der Kulturen der Welt umrissen. Geben wir diesem Forum eine Chance durch verantwortungsbewussten Umgang mit Weltkulturerbe für nachfolgende Generationen!